„Und dann waren wir am Westbahnhof“

Am Boden eines Bahnsteigs am Wiener Westbahnhof sind immer wieder Buchstabenfolgen zu erkennen. Die Wörter sind schon etwas verblasst. Dennoch kann ich das Geschriebene entziffern, wenn ich an den wartenden Menschen vorbeischlendere.

Gedanken für den Tag 12.6.2018 zum Nachhören:

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Der Inhalt erinnert an das dunkelste Kapitel der jüngeren Geschichte, an den Holocaust. Der Lauftext erzählt die Geschichte des jüdischen Schauspielers Otto Tausig, der 1938 als Jugendlicher nach England flüchtete. So ist da zu lesen: „Und dann waren wir also am Westbahnhof. Ich war schon eingestiegen und schaute zum Fenster heraus, eingezwängt zwischen den vielen Kindern, die von ihren Eltern Abschied nahmen. Wir alle hatten ein Pappendeckelschild um den Hals mit einer Nummer, damit man uns in England unseren Bestimmungsorten richtig zuteilen konnte. Die Eltern standen auf dem Perron und gaben noch letzte Ratschläge.“

Johanna Schwanberg
ist Direktorin des Dom Museum Wien

Geschichte und Gegenwart im Dialog

Ich kann und möchte mir als Mutter zweier Kinder gar nicht vorstellen, welche Dramen sich hier abgespielt haben. Und dennoch waren die sogenannten britischen Kindertransporte eine der wenigen Möglichkeiten, bei denen Zehntausende, meist jüdische Kinder und Jugendliche dem nationalsozialistischen Terrorregime entkommen konnten.

Die Textinstallation am Westbahnhof gehört zu der mehrteiligen Reihe „Mahnmal Alltagsskulptur“ der österreichischen Künstlerin Catrin Bolt. Sie wurde vor drei Jahren für ihr sozialkritisches und politisches Werk mit dem renommierten Otto Mauer Preis ausgezeichnet. Ich schätze Bolts Arbeiten im öffentlichen Raum, weil sie mich bescheiden, aber gezielt, auf Orte im Stadtraum hinweisen, an denen Unrecht und Gewalt stattgefunden haben.

Eine neue Dimension erhielt die Arbeit 2015. Damals haben die Massen an nach Österreich geflüchteter Menschen Bolts Mahnmal unsichtbar gemacht, so voll waren die Bahnsteige des Westbahnhofs. Geschichte und Gegenwart sind miteinander in einen irritierenden Dialog getreten. Erschreckend wurde mir bewusst, wie zentral das Thema Flucht die Menschheitsgeschichte bestimmt. Auch wie notwendig mutige Hilfe zum richtigen Zeitpunkt ist, sei es von Einzelpersonen oder einer ganzen Nation.

Musik:

„Heimatlos“ von Kurt Adametz
Label: ORF Enterprise Musikverlag ORF-E-CD0052