Das lebendige Grab

Es ist falsch zu denken, dass wer ins Exil geht, automatisch ins Glück und in die Freiheit rennt. Nicht bloß Faulenzen und Sonnenbaden erwarten die Wanderer. Sündenbock, Jesus oder Buddha, sie alle zogen in die Ödnis und trafen dort die Finsternis. Auswanderer haben in diesem Zusammenhang schon vom lebendigen Grab geschrieben.

Gedanken für den Tag 22.9.2018 zum Nachhören:

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Wenn mit Rosch ha-Schana ein neues Jahr jüdischer Zeitrechnung beginnt, ist es Zeit Bilanz zu ziehen. Zehn Tage bis Jom Kippur, um auf den bisherigen Weg zurückzuschauen und nötigenfalls die Route zu verwerfen. In einem neuen Umfeld ist dieses Empfinden besonders stark. Das Auf und Ab der Gefühlswellen hat meine Omama noch nostalgisch kunstvoll als „himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ beschrieben, die moderne Gebrauchslyrik singt weit prosaischer vom Leben als Achterbahnfahrt.

David Weiss
ist Schriftsteller

Mit sich selbst versöhnt

Zukunftswillen und Gestaltungswut erklimmen den Gipfel des Empfindbaren, kurz darauf, nach einem Schwupps und Magenheber, stürzen die Gefühle in die finsterste Talsohle. Ich bin den Gezeiten meiner Empfindungen ausgesetzt. Mit einem Mühlstein aus Reue und Schuld um den Hals, der mich zusätzlich runterzieht. In tiefe Verzweiflung, Nichtigkeit und Einsamkeit. Und wenn dann ein mit viel Bedeutung versehenes Datum auf dem Kalender erscheint wie ein Jahreswechsel, dann glotzt der Abgrund plötzlich zurück und fragt: „Was hast Du bisher erreicht?“ Die Nabelschau wird zum Gruselkabinett. Nichts genügt der Vorstellung. Das Schauerlichste ist das eigene verzerrte Spiegelbild.

Da blicke ich dem Dämon Asasel ins Auge, der Personifikation der lebensfeindlichen Wüste. Die Nacht ist am finstersten und kältesten vor Sonnenaufgang. Die Versöhnung erscheint als Silberstreif am Horizont. Einmal ist´s auch genug! Jetzt ist der Moment zum Greifen nah, die Selbstgeißelung zu beenden, Vorwürfe und Reue einem virtuellen Geißbock aufzuladen, und sie alle miteinander zum Teufel zu schicken. Es tut Not, sich endlich zu verzeihen, um weitermachen oder neu beginnen zu können. Und in der Morgendämmerung schließlich der Gedanke: Mit sich selbst versöhnt ist Gottes Vergebung sicher. Zu aller Zeit und an jedem Ort.

Musik:

Bertil Schulrabe/Schlagzeug, Kleztory und I Musici di Montreal unter der Leitung von Yuli Turovsky: „Going Home“, bearbeitet von Henri Oppenheim und Alain Legault
Label: Chandos CHAN 10181