Die vielen Gesichter der Gerechtigkeit

Jedes Kind weiß, schreibt die ungarische Philosophin Agnes Heller, welcher Lehrer gerecht ist und welcher ungerecht. Zu klären, was eigentlich gerecht und was ungerecht ist, ist indes ungleich schwerer.

Gedanken für den Tag 13.11.2018 zum Nachhören:

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Das gefühlte Wissen des Kindes hat, so Heller, damit zu tun, dass der betreffende Lehrer sich an die Normen und Regeln, die in einem konkreten Fall für alle gelten, hält. Er ist so etwas wie ein Schiedsrichter, der Urteile, in diesem Fall Noten und Lob, austeilt.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literatur- und Kulturwissenschaftler

Normen und Regeln

Unser soziales Zusammenleben funktioniert vor allem dann, wenn diese formale Form von Gerechtigkeit erfüllt ist. In diesem Sinne kann ein Despot oder auch ein Mafia-Boss gerecht sein, etwa wenn er die kriminelle Beute gerecht unter seine Leute verteilt. Von Aristoteles stammt die These, dass ein Mann gerecht ist, wenn er Gleiche gleich und Ungleiche ungleich behandelt. Aristoteles tut Letzteres übrigens selbst, wenn er die Frau, die unter die Kategorie der Ungleichheit fällt, aus seiner Definition ausschließt.

Eine solche Auffassung, die nicht selten – täuschen wir uns da nicht – wie selbstverständlich unseren Alltag prägt, lässt sich als formal und funktional betrachten. Ihr stellt Heller eine dynamische Auffassung gegenüber, die die Regeln und Normen, die uns oft als zweite Natur begegnen, selbst zum Gegenstand des Nachdenkens über Gerechtigkeit macht. Diesen Zustand, in dem nichts mehr selbstverständlich und gottgegeben scheint, was gerecht ist, verbindet Heller mit dem Begriff der Moderne. In ihr finden wir Menschen, die allesamt davon überzeugt sind, dass ihr Anliegen gerecht und billig ist. In dieser Moderne hat die Gerechtigkeit viele Gesichter. Deshalb streiten wir darüber, welche Normen, welche Regeln gerecht und gerechtfertigt sind.

Musik:

Michael Krist/Klavier und Joachim Krist/Viola: „Allegro moderato, ma passionato - 1. Satz“ aus: Sonate für Viola und Pianoforte/Klavier op. 86 von Robert Fuchs
Label: Carillon 24750