Das Janusgesicht des „Heiligen“

Die meisten Religionen haben einen Mittelpunkt, den man „das Heilige“ nennen kann. Dieses Heilige hat ein doppeltes Gesicht, wie die meisten Religionen. Es ist anziehend, heilbringend, Leben spendend, ein „Segen“ – es kann aber auch furchtbar, erschreckend, todbringend, ein „Fluch“ sein.

Gedanken für den Tag 15.1.2019 zum Nachhören:

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Über die Urformen von Religion haben wir nur Vermutungen, aber kaum gesichertes Wissen. Ich erinnere mich an riesige Felsblöcke, die Menschen der Jungsteinzeit vermutlich zu Kultstätten zusammengestellt haben. Man findet sie auf Malta, ganz ähnlich auf den Orkney-Inseln und in der östlichen Türkei. Wenn es Tempel waren – wem waren sie geweiht? Den freundlichen Gottheiten des Lichts der Oberwelt – oder den Todesgöttern der Unterwelt? Welchen Zwecken mögen sie gedient haben?

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe und Autor

Das Heiligtum und das Profane

Man darf vermuten, dass es heilige Orte waren, Sakralstätten. Das lateinische Wort sacer kann beides heißen: den Gottheiten des Himmels geweiht, also heilig – oder den Todesgöttern der Unterwelt – also verflucht. Einen fernen Nachklang dieser bedrohlichen Seite der Gottheit und der Religion kann man noch im Wort „Gottesfurcht“ nachklingen hören. Im alten Akkadisch bedeutet Gottesfurcht wörtlich „voll Angst“. Das Heilige ist auch das Unheimliche – lang vor dem Aufkommen des Begriffs Transzendenz.

Zur Religion scheint die Unterscheidung zwischen einer göttlichen und einer nicht göttlichen Sphäre zu gehören. Es gibt das fanum, das Heiligtum, und das, was vor dem Heiligtum liegt, das Profane. Nur ganz wenigen auserwählten Personen ist es erlaubt, das Heiligtum zu betreten.

Man muss nur im Hochsommer eine unserer gotischen Kathedralen oder barocken Kirchen betreten um zu sehen, wie sehr der Unterschied zwischen dem Heiligtum und dem profanen Raum bereits verwischt wurde. Zu hoffen bleibt, dass dies nicht ein Zeichen für einen generellen Verlust an Respekt abbildet.

Musik:

Filmorchester und Choir of King’s College, Cambridge unter der Leitung von Thomas Newman: „Cathedral“ (enthält Ausschnitte aus „Alma Redemptoris Mater“) aus: ROAD TO PERDITION / Original Filmmusik von Thomas Newman
Label: Decca/Universal Classics/UMG Soundtracks 0171672