Der Schrei

Zum 75. Todestag von Edvard Munch: Es gibt Bildmotive, die sind so oft vervielfältigt worden, dass ich sie mir gar nicht mehr genau anschauen möchte, so vertraut erscheinen sie mir.

Gedanken für den Tag 23.1.2019 zum Nachhören:

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Oft ist mein Blick auf das Original überlagert von den vielen Kopien und Vermarktungen eines Meisterwerks in Form von Abbildungen auf Handyhüllen, Kaffeetassen, T-Shirts und Socken. Edvard Munchs „Der Schrei“ ist ein derart ausgeschlachtetes Motiv. Es findet sich nicht nur auf jeglicher Art von Gebrauchsgegenständen, sondern diente etwa auch als Vorbild für die Maske des Mörders in der Horrorfilmreihe „Scream“ oder für ein Emoji, das Schock und Erschrockenheit in der Smartphone-Sprache ausdrücken soll.

Johanna Schwanberg
ist Kunstwissenschaftlerin und Direktorin des Dom Museum Wien

Ein Gefühl von Formen, Farben und Linien

So sehr mich die Vermarktung von Kunstmotiven oft ärgert, so sehr fasziniert sie mich auch, zeigt sie mir doch, wie bedeutsam bildende Kunst für die Gesellschaft sein kann. Ist es nicht unglaublich, dass Edvard Munch um 1893 ein Bildmotiv erfand, das zum Symbol des von Einsamkeit und Angst geprägten modernen Menschen wurde, der die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts visionär vor sich sieht?

Ja, vielmehr noch: Sein geschlechts- und zeitloses Wesen wurde zum Inbegriff des emotionalen Aufschreis schlechthin. Es steht im Vordergrund des Bildes, den Betrachtern frontal zugewandt, auf einer Brücke: mit weit aufgerissenen Augen und einem ebenso weit geöffneten Mund. Die Hände hält die geheimnisvolle Gestalt eng an die Ohren gepresst. Im Hintergrund zwei skizzenhafte Figuren und vor allem eine ungemein intensiv und bewegt gemalte Natur: ein bläulicher Fjord und ein leuchtend orangeroter Himmel.

Dem norwegischen Malerstar, der heute vor 75 Jahren starb, ist es mit dieser Mischung aus Formen, Farben und Linien gelungen, ein Gefühl auszudrücken, das im Grunde gar nicht in Worte gefasst werden kann. Es kann jeden von uns in bestimmten Situationen betreffen – und drückt für mich eine Fassungslosigkeit aus, angesichts von Ereignissen, die kaum zu ertragen sind. Etwa der unerwartete Tod geliebter Menschen. Munch selbst hat kurz vor der Entstehung der ersten Fassung dieses Motivs einen Spaziergang und sein intensives Naturerleben als Grundlage des Gemäldes beschrieben. So notierte er in sein Tagebuch: „Ich stand da zitternd vor Angst – und ich fühlte etwas wie einen großen unendlichen Schrei durch die Natur.“

Musik:

Lynn Harrell/Violoncello und Cleveland Orchestra unter der Leitung von Lorin Maazel: „Allegro - 4. Satz“ aus: Konzert für Violoncello und Orchester in e-moll op. 85 von Edward Elgar
Label: London 4213852