Zwischen Pruth und Dnister

Gedanken über die Republik Moldau: Man verliert viel, wenn man sich einem Land nicht langsam annähert, sondern einfach am Flughafen ankommt. Das wird mir auf dem Weg von der nordostrumänischen Stadt Iaşi in die moldawische Hauptstad Chişinău bewusst. Ich sitze in einem Mikroautobus, er braucht über fünf Stunden für die 120 Kilometer.

Gedanken für den Tag 14.10.2019 zum Nachhören (bis 13.10.2020):

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Meine Mitreisenden sind hauptsächlich Studentinnen und Studenten aus der Republik Moldau, die an der Universität Iaşi studieren. Sie hören Musik von neuen Handys, haben ihren Laptop dabei und sind gut gekleidet. Woher haben sie das Geld dafür, frage ich mich und verfalle schon fast in den billigen Klischee-Schluss: So arm kann das Land ja nicht sein, wenn sich Studenten das leisten können. Erst später erfahre ich: Mindestens ein Viertel der Bevölkerung arbeitet im Ausland, Padua gilt mittlerweile als drittgrößte rumänische Stadt. Jede Familie, die einigermaßen über die Runden kommt, hat jemanden im Ausland. Aus diesen Quellen sind auch diese Laptops und Handys finanziert.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Dem organisierten Tourismus entkommen

Die Leiden, die diese Arbeitsemigration verursacht, sind enorm: An die 100.000 Kinder wachsen in Moldawien ohne ihre Eltern auf, weil diese im Ausland arbeiten. Aber viele sehen keinen anderen Ausweg, weil es im Land wenig Arbeit gibt, von der man leben kann. Ich schäme mich, dass auch ich glaubte, Armut müsse auf den ersten Blick sichtbar sein und sich quasi ausweisen, damit sie glaubhaft ist; und dass ich Menschen infrage gestellt habe, deren bisschen Wohlstand aus solchen Entbehrungen stammt.

Nach langem erlebe ich wieder die Kontrollen an einer EU-Außengrenze. Als wir sie passiert haben, küssen und umarmen sich die Studenten. Ich möchte gerne wissen, wovor sie Angst hatten oder was sie schmuggeln, aber ich bin der einzige Fremde in diesem kleinen Bus und kann sie nicht fragen. Und bin neugierig und aufgeregt, weil ich nach langer Zeit wieder in ein Land fahre, das mir ganz neu und unbekannt ist. In das bange Warten, was die nächsten Tage bringen werden, mischt sich die Freude, dem organisierten Tourismus entkommen zu sein und ganz auf mich gestellt mit offenen Augen Chişinău und seine Menschen zu erkunden.

Musik:

Francois Lilienfeld/Akkordeon/Gitarre, Andrea Sechser/Violoncello, Evelyne Emch/Flöte, Andrea Spörri/Violine und Mischa Gerber/Violine: „Bessarabianka"
Label: Swiss Pan 510516 < Koch >