Bekreuzigungsgefuchtel

Ein Mann küsst eine Ikone wie ein erotisch Besessener, vor und nach ihm hält eine Frau ihre Stirn an die Ikone. Rund um mich wildes und ununterbrochenes Kreuzschlagen, ständig fällt jemand auf die Knie.

Gedanken für den Tag 17.10.2019 zum Nachhören (bis 16.10.2020):

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Ich stehe in einer orthodoxen Kirche in der moldawischen Hauptstadt Chişinău und bin ziemlich ratlos. Ich war in etlichen orthodoxen Kirchen in mehreren Ländern, aber eine so geradezu öffentlich ausgestellte und auf mich hektisch wirkende Frömmigkeit habe ich noch nie erlebt. Schon am Eingang hat ein sehr modern angezogener junger Mann eine Ikone geküsst; „Bekreuzigungsgefuchtel“ schreibe ich irritiert in mein Notizbuch.

Lehrt die Not beten?

Irritiert bin ich, weil ich das Gefühl habe, hier wird eine Schamgrenze verletzt, ich werde Zeuge von etwas, was besser intim bleiben sollte. Oder bin ich, aus dem Katholizismus kommend, einfach unfähig, dieses sinnliche Verhältnis zu Bildern, zu den Ikonen, und den Überschwang der Gesten zu verstehen?

Ich erfahre jedenfalls: 93 Prozent der Moldawier gehören einer der orthodoxen Kirchen an, und nur ein Prozent ist areligiös. Die christlichen Traditionen sind vielfältig und stark, und es gibt viele bedeutende Klöster; leider reicht meine Zeit nicht, um eines zu besuchen.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Eine große Wunde des Landes ist, dass die Juden nicht einmal mehr ein Prozent der Bevölkerung ausmachen – dabei ist das Judentum tief in der Geschichte Moldawiens verwurzelt. Der Holocaust war hier besonders brutal – und ist nahezu vergessen.

Das alles fällt mir ein, während ich in dieser orthodoxen Kirche stehe und die mir fremden individuellen, aber offenbar doch sehr standardisierten Rituale beobachte. Die inständigen und auch verzweifelten Gebete, die nicht nur in Worten, sondern mit dem ganzen Körper ausgedrückt werden, spiegeln auch die triste Situation im Land wider. Lehrt die Not hier noch beten?

Mir graut vor religiösen Ideologen, die sich darüber freuen. Aber ich freue mich, dass die Not starke und intensive religiöse Ausdrucksformen findet und nicht stumm bleibt. Ich kann sie nicht nachvollziehen oder gar mitmachen, aber ich spüre darin die Kraft einer Hoffnung, die sich nicht unterkriegen lassen will.

Musik:

Prima Carezza: „Bessarabische Hora"
Label: Tudor 7160