Christentum und Kapitalismus

Über lange Jahrhunderte hatten die christlichen Kirchen in Europa das Sagen, religiös und überhaupt. Sie waren an der Macht und das gern und intensiv und sie nutzten diese Macht auch gern und intensiv, von der Politik bis zur Regulierung des Intimsten.

Gedanken für den Tag 27.4.2020 zum Nachhören (bis 26.4.2021):

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Damit aber ist es mehr oder weniger vorbei. Seit einiger Zeit wird Religion - wie vieles andere auch - zunehmend marktförmig vergesellschaftet. Das eröffnet wie jeder Markt viele Möglichkeiten, vor allem befreit es von religiöser Repression. Das ist ein großer Fortschritt. Es hat aber auch ziemlich merkwürdige Folgen, vor allem für die Kirchen selbst.

Wirkliche Freiheit

Um es gleich mit marktförmigen Kategorien zu beschreiben: Die Kirchen werden aktuell von ihrer Konsumentenseite her umformatiert, insofern die klassischen kirchlichen „Produktionsbedingungen“ von Religion und deren „Konsumbedingungen“ nicht mehr so recht zueinander passen. Das allein schon deshalb, weil sich die Institutionen der Religion gerade nicht unter den Kategorien von Produktion und Konsum verstehen, aber genauso genutzt werden. Und das ganz unabhängig davon, wie sie sich dazu stellen.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe an der Karl-Franzens-Universität in Graz

Zudem werden religiöse Traditionen im postmodernen Kapitalismus aus ihren klassischen Herkunftskontexten gelöst und in abstrakt-mediale, global vermarktbare und letztlich austauschbare Marken transformiert. Das ist etwa dem Dalai Lama, den Engeln und wohl auch dem Papst passiert.

Religion wird heute weitgehend in das Nutzenkalkül des Einzelnen integriert, in sein unternehmerisches Selbst. Nicht mehr die Lehren und Gebote der Religion herrschen über das Leben, sondern individuelle biografische Bedürfnisse entscheiden darüber, ob man sich religiösen Orten und Praktiken zuwendet oder auch nicht.

Die katholische Kirche trifft das übrigens ganz besonders hart. Denn sie hatte in Reaktion auf den Protestantismus und auf die moderne bürgerliche Gesellschaft ihre intellektuellen, rituellen und moralischen Traditionen genau eng an ihre Lebensform als wohlformatierte überaus regulierte Kirche gekoppelt. Das war lange hoch effektiv, wendet sich aber gegenwärtig gegen sie und erklärt einen Teil ihrer aktuellen Probleme. Aber es hat auch sein Gutes: Im Religiösen gibt es auch für Katholikinnen und Katholiken endlich wirkliche Freiheit.

Musik:

Horace Silver Quintet: „Song for my father“ von Horace Silver
Label: Blue Note/Capitol CDP 7841852