„ich bezwetschkige mich“

Wie habe ich gelacht, als ich diese vier ersten Zeilen eines Gedichts von Ernst Jandl zum ersten Mal las.

Gedanken für den Tag 3.6.2020 zum Nachhören (bis 2.6.2021):

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ich bekreuzige mich
vor jeder kirche
ich bezwetschkige mich
vor jedem obstgarten

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Zweierlei Handzeichen

Es war ein befreiendes Auflachen, denn im ritualisierten Katholizismus meiner Kindheit und Jugend war das Kreuzzeichen noch omnipräsent. Zudem heißt dieses Gedicht „Zweierlei Handzeichen“ – der Titel erklärt damit Bekreuzigen wie Bezwetschkigen gleichsam zu Verkehrszeichen. Bekreuzigen sei genauso lächerlich, als würde ich mich bezwetschkigen, dachte ich mir damals, nur die Katholiken merken das nicht.

Das Gedicht hat aber noch eine Fortsetzung:
wie ich ersteres tue
weiß jeder katholik
wie ich letzteres tue
ich allein

Irgendwann, als ich das Gedicht zum xten Mal las, wurde mir plötzlich klar: Der Katholik ist hier doch in der besseren Position, denn alle wissen und verstehen, was er macht. Mag bekreuzigen auf manche Menschen lächerlich wirken – der Versuch, ein eigenes Zeichen zu kreieren, ist noch lächerlicher oder, genauer gesagt: von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Gespräch habe ich Ernst Jandl dann gefragt, ob diese Deutung stimmt. Seine Antwort: „Sie ist jedenfalls sehr gut.“ Und zu meiner Überraschung sagte Ernst Jandl dann noch: “Ich glaube, dass die Vorstellung einer religiösen Gemeinde, einer gewissen Anzahl von Menschen, die sich in einem dafür bestimmten Raum einfinden, eine große Kraft besitzt, weil diese Menschen, die hier zusammenkommen, einander ein gewisses Einverständnis bezeugen.“

Wir sprachen dann noch über die Gebete, die ja auch gemeinsame Bezugstexte sind und zumindest von allen Menschen derselben Religion verstanden werden. Ein Dialekt-Gedicht von Ernst Jandl ist denn auch fast ein Gebet – ein Gebet im Konjunktiv:

I kenntad zu gott beedn
ea soet me ned zadreedn
wia r an ölendichn wuamm
zwos waradn sä sohn am graiz gschduamm

Musik:

NDR Big - Band unter der Leitung von Dieter Glawischnig: „It don’t mean a thing if it ain’t got that swing“ von Duke Ellington und Irving Mills, bearbeitet von Joki Freund
Label: ACT 92332