Hans Rieger - Die Tosca im Landesgericht

Die Menschen, mit denen er redete, hatten die Kriegslage geschildert; waren Homosexuelle, hatten Feldpostbriefe geöffnet oder Hühner gestohlen. Ihre Berufe waren Schaffner, Bahnwarte, Studenten, Geistliche, Hilfsarbeiter oder Hebammen. Eines war ihnen allen gemeinsam: Der Tod durch das Fallbeil.

Gedanken für den Tag 31.10.2015 zum Nachhören:

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Hans Rieger, der evangelische Gefängnispfarrer im Wiener Landesgericht, betreute sie bis in die letzten Minuten. Wenn er sie in der Zelle besuchte, hatte er eine Bibel bei sich.

Als er die einem zum Tode verurteilten Kommunisten überreichen wollte, rief dieser voll Verachtung: „Was haben sie uns da gebracht? Ein neues Testament? Sie hätten uns lieber ein Maschinengewehr bringen sollen!“ Der Gefängnisseelsorger stimmte dem Verurteilten zu.

Kurt Scholz Zukunftsfond Republik Österreich Stadtschulratspräsident

ORF/Ursula Hummel-Berger

Kurt Scholz ist Vorsitzender des Zukunftsfonds der Republik Österreich und ehemaliger Stadtschulratspräsident.

„Nun sterb’ ich in Verzweiflung...“

Seit 1942 versah der Pfarrer Hans Rieger seinen Dienst im Landesgericht Wien. Manche Verurteilte nannten ihn einfach „den Evangelischen“, andere „den Engel im Landesgericht“.

Seit 1924 war er Pfarrer der Evangelischen Gemeinde in Favoriten. Wenn ihn dort der Anruf „Herr Pfarrer, wir brauchen Sie“ erreichte, wusste er, dass Hinrichtungen bevorstanden. Die Hände auf den Rücken gefesselt wurde der Verurteilte durch einen schwarzen Vorhang gestoßen. Minuten später stand Pfarrer Rieger vor einem geschlossenen Blechsarg.

Bis zu 40 Mal hintereinander musste Pfarrer Rieger diese Prozedur miterleben. Rieger war ein mutiger Mann. Er besuchte die Familien der Verurteilten. Mütter, Angehörige kamen in seine Wohnung, brachten ihm Briefe und kleine Gaben für die Verurteilten. Rieger schmuggelte sie ins Gefängnis. Die Briefe der Inhaftierten brachte er nach draußen. Wenn sie die Familienangehörigen gelesen hatten, mussten sie vor ihm verbrannt werden.

Nach dem Krieg, im Jahr 1946, nahm Pfarrer Rieger Abschied vom Landesgericht. Ein Nationalsozialist hatte sich vor der Hinrichtung vergiftet. Rieger wurde verdächtigt, die Giftphiole überbracht zu haben. „Ich zog aus dem Misstrauen gegen mich die Konsequenz und trat freiwillig aus dem Gefangenendienst zurück“, schreibt Rieger.

Unzähligen hat er Trost gegeben. Manchmal brauchte er dazu nicht zu reden. Etwa, so schreibt er, „bei dem jungen, schwarzäugigen Ausländer, mit dem ich nicht reden konnte, weil wir einander in unserer Muttersprache nicht verstanden. Er ging in der Zelle auf und ab, lächelte mich an und pfiff unaufhörlich die Melodie des Cavaradossi aus ‚Tosca‘: „… die Stund‘ enteilt, nun sterb‘ ich in Verzweiflung, und liebte niemals noch so sehr das Leben!“

Musik:

Columbia Symphony Orchestra unter der Leitung von Andre Kostelanetz: „E lucevan le stelle“ - Arie d. Cavaradossi a. d. Oper in 3 Akten „Tosca“ / 3.Akt / Orchesterfassung von Giacomo Puccini
Label: Columbia / Sony SK 52556