Konsens statt Diktatur der Mehrheit

„Über die Wahrheit kann man nicht abstimmen“ – dieses Argument wird oft vorgebracht, wenn von Demokratie in der Kirche die Rede ist.

Thomas Hennefeld
ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

In den evangelischen Kirchen gibt es schon lange demokratische Strukturen. Und bei der Weltversammlung der evangelisch-reformierten Kirchen – vor kurzem in Leipzig – wurde ein neuer Abstimmungsmodus ausprobiert, der verhindern soll, dass Demokratie zur Diktatur der Mehrheit wird.

Orange und blaue Karten

Die Reformierte Kirchenfamilie ist in Leipzig zusammengekommen, aus allen Ecken dieser Welt. Diese Weltfamilie ist nicht einheitlich. Es gibt große Unterschiede, nicht nur in den Lebensumständen, sondern auch in weltanschaulichen Fragen.

Und doch strebten gemeinsame Beschlüsse an. Aber meistens wurde nicht einfach abgestimmt. Bei Abstimmungen gibt es Gewinner und Verlierer. Die Mehrheit siegt über eine Minderheit. In Leipzig wurde etwas Anderes ausprobiert. Jeder Delegierte hatte eine orange und eine blaue Karte. Orange bedeutet: Ich finde den Vorschlag gut, ich kann mich dafür erwärmen. Blau hingegen signalisiert Kühle. Also nicht einfach ja oder nein. Und oft wurde so lange debattiert, bis es zu einem Konsens kam. Und die mit den blauen Karten wurden gefragt, ob sie damit einverstanden wären. Meistens waren sie es. Vielleicht ein Vorbild für die Politik.

Vision für eine andere Politik?

Sicher, es müssen Entscheidungen getroffen werden, und man kann nicht endlos lange diskutieren. Aber diese Vorgangsweise, zu Entscheidungen durch Konsens zu kommen, wobei die anderen überzeugt und nicht überstimmt wurden, könnte eine Vision für eine andere Politik sein.

Wir erleben Demokratie zunehmend als die Herrschaft einer Mehrheit, die manchmal auch zweifelhaft zustande kommt, gegen eine Minderheit. Wie wäre es, aufeinander zu hören und gemeinsame Interessen zu verfolgen? Vielleicht würden ja manche Konflikte und Spannungen dadurch vermieden werden können.

Morgengedanken 17.7.2017 zum Nachhören:

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